Leerlauf – im Alltag zur Ruhe kommen

Der Leerlauf ist für mich das Motto dieser Tage, es passt gut zu den Sommerferien und zu vergangenen Lock-Down-Zeiten. Im Leerlauf stehen die Räder still und wir können spüren, wo und wer wir überhaupt sind. Wer zu sich selbst und seine Bestimmung finden möchte, wer sich an den eigenen Bedürfnissen und Befindlichkeiten orientieren möchte, muss ab und an zur Ruhe kommen, in die Stille gehen, sonst hört man die eigene Stimme nicht so gut.

Der schnelle Takt des Alltags

Im letzten Jahr sind für viele Menschen außergewöhnliche Dinge geschehen, die meisten hat das Geschehen emotional sehr beschäftigt. Für Menschen, die im Gesundheits- und Versorgungssystem beschäftigt sind, oder für berufstätige Eltern mit Kindern war es zum ohnehin schon stressigen Alltag eine besonders herausfordernde Zeit – kaum Zeit zum Aufatmen. Andere hingegen hatten im Lock-Down sehr viel Leerlauf und haben sich mit dieser und jener neuen Beschäftigung abgelenkt.
Aber auch ohne Corona ist das Leben vieler Menschen so strukturiert, dass wir viel Zeit mit Lohnarbeit, Hausarbeit, Kinderbetreuung und einem ebenso anspruchsvollen Freizeitprogramm verbringen. Für alle Tätigkeiten erhalten wir auch noch unzählige Konsumangebote aus Medien, Internet und Handy, die uns permanent beeinflussen. Zeit für eine Reflexion, was uns ein regelmäßiger und gepflegter Leerlauf bringen kann.

Im Bereitschaftsbetrieb

Leerlauf ist eigentlich ein Begriff aus der Elektrotechnik und besagt, dass der Strom aus der Stromquelle noch fließt, aber es ist kein Gerät oder keine Maschine angeschlossen, die den Strom in eine spezifische Arbeit umsetzt. Der Begriff passt gut für den Zustand, den ich hier für uns Menschen beschreiben möchte: Wir stehen unter Strom, nach einem vollen Tag oder nach einer anstrengenden Tätigkeit oder einem Streit, setzen uns hin und tun – nichts. Leerlauf könnte man also als Nichts-Tun bezeichnen. In diesem Zustand „machen“ wir auch keine Meditation oder Entspannungstechnik, denn das ist schon wieder ein Vorhaben mit bestimmten Vorgaben. Das Sitzen und Nichts-tun ist umgangssprachlich ein bisschen negativ konnotiert als „Wand anstarren“, als sei die Zeit zu kostbar, um sie mit Nichts-tun zu vergeuden.

„Ich möchte einfach nur hier sitzen.“

Für den Leerlauf sitzt man am besten in einem vertrauten Raum, also zu Hause oder auch auf dem Arbeitsplatz, wenn man da irgendwo Ruhe hat. Günstig ist es natürlich, wenn man allein ist, aber es ist nicht so streng wie bei einer Entspannungsübung. Es können auch andere Menschen im Raum sein.

Richten Sie sich am besten jeden Tag oder so oft eben möglich eine Zeit ein, in der Sie nichts tun, also keine Handlung mit Händen, Füßen oder anderen Körperteilen verrichten und „einfach nur hier sitzen“ (Loriot). Ansonsten ist alles erlaubt in dieser Zeit: Augen auf, Augen zu, sich im Sitzen bewegen, Gedanken denken, Gefühlen nachgehen, Körperempfindungen nachspüren, auch einen Schluck trinken. Es geht darum, dem Raum zu geben, was uns in diesem Moment bewegt. Im Gegensatz zur Meditation dürfen Sie sich Gedanken und Gefühle ganz hingeben. Also nicht nur wahrnehmen, was ist, sondern auch zu 100% sein dürfen, was ist. Es kann aber auch sein, dann nach dem Sturm des Tages plötzlich gar nichts mehr bei Ihnen los ist, also kein Fühlen, wenig Denken, vielleicht sogar etwas Taubheit. Dann ist auch das ok. Möglicherweise kommt sogar schnell Langeweile auf. Dann ist es sinnvoll, bei der vorgenommenen Zeit zu bleiben und vielleicht mal ein bisschen durchzuatmen oder in den Körper reinzuspüren und die Langeweile zu erleben.

Was du anschaust, fühlt sich gesehen – und kann gehen

Optimal für den Leerlauf sind mindestens 15 Minuten. Je länger man da sitzt und nichts tut und nur spürt, was sich gerade im Innern bewegt, desto größer ist die Chance, dass sich die Gefühle und Gedanken zeigen, die zum aktuellen Geschehen im Leben gehören und gesehen werden wollen. Wenn man eine Stunde Zeit hat und es regelmäßig praktiziert, kann es sogar passieren, dass man leer läuft an Gedanken und Gefühlen. Man hat alles Wichtige mal durchdacht und durchspürt und ist dann vielleicht aufgeräumter. Ein Freund von mir fuhr gern allein zwei Monate in den Urlaub und und hatte am Ende alle Gedanken und Probleme, die ihn beschäftigt haben, „fertig gedacht“. Ich selbst habe von einer Psychologin mal die Aufgabe bekommen, mich nach einer komplizierten Trennung über einen Monat jeden Tag eine Stunde lang hinzusetzen und nichts zu tun, um die Gefühle zu fühlen, die damit verbunden waren. Manchmal saß ich da und habe mich sehr gelangweilt. Am Ende liefen doch die Tränen.

„Ich muss mal in Ruhe über alles nachfühlen.“

Der Leerlauf ist im Grunde eine gute Vorbereitung für eine Familienaufstellung. Und auch für eine Meditation im übrigen. Bei Menschen, deren Leben stark getaktet ist, sehe ich den Leerlauf als eine Art Vorraum oder Vorstufe zu Meditation oder bewusster Achtsamkeitsübung. Wir üben uns in der Ruhe und darin, langsamer zu werden für einen Moment. Dies schafft Raum für Gedanken und Gefühle, die uns beschäftigen. Dieser Raum ist oft ausschließlich ausgefüllt mit Terminen, Treffen und Tätigkeiten. Dabei brauchen wir nicht nur die Zeit, „über alles in Ruhe nachzudenken“ – wir brauchen auch die Zeit, in Ruhe über alles nachzufühlen oder nachzuspüren. Über die besondere Bedeutung der Gefühle werde ich im nächsten Beitrag berichten.

Wenn es Ihnen schwer fällt, trotz Ruheinseln und Nichts-Tun zur Ruhe zu kommen, kann die Ursache ein Getriebensein, ein traumatischer Stress oder eine Vermeidungsstrategie sein. In diesen Fällen könnte Ihnen eine systemische Aufstellung helfen, um zu schauen, woher diese Unruhe kommt. Melden Sie sich, wenn Sie einfach nicht zur Ruhe kommen, ich unterstütze Sie gern.

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Aktualisiert am 02.03.2021